In welchem Kontext arbeitest Du als Kunstvermittler*in – und wie kamst Du dazu?
Als Gründerin, Geschäftsführerin und künstlerische Leiterin der Ephra gUG gestalte ich gemeinsam mit einem kleinen Team Begegnungsräume für Kinder und Kunst/ Künstler*innen. Ephra widmet sich der Konzeption, Kuration und Realisierung von Projekten, die diese beiden Welten (die der Kinder und die der Kunst) verbinden. Mein Weg hierher wurde durch meine eigenen Kindheitserfahrungen geprägt. Als junger Mensch begegnete ich der Welt der Erwachsenen oft mit Verwunderung. Einzig in der Kunst fand ich Strukturen und Gesetzmäßigkeiten, die mir einen tieferen Sinn vermittelten. Diese frühe Erkenntnis führte mich zu einem Kunststudium bei Georg Baselitz und Rebecca Horn, wo sich mein Verständnis von Kunst fundamental erweiterte.
Während meines künstlerischen Werdegangs kristallisierte sich eine zentrale Erkenntnis heraus: Kunst ist im Kern Beziehungsarbeit. Ein Kunstwerk entfaltet seine wahre Kraft nicht in isolierter Existenz, sondern im lebendigen Dialog mit seinen Betrachter*innen. Diese Einsicht führte zu einem erweiterten Kunstverständnis: Ein Kunstwerk ist nie abgeschlossen, sondern entfaltet sich kontinuierlich neu durch die Begegnung mit seinem Publikum. Als Künstlerin sehe ich es daher als meine Aufgabe, Räume des gemeinsamen Erlebens zu schaffen. Besonders wichtig ist mir dabei die Einbeziehung von Kindern – jenen Menschen, die mit einem unverstellten, noch nicht von Konventionen geprägten Blick die Welt erkunden. Ihre oft ungefilterte und authentische Wahrnehmung bietet uns allen die Chance, eingefahrene Sichtweisen zu hinterfragen und neue Perspektiven zu entdecken.
Mit wem arbeitest Du zusammen?
Bei Ephra arbeiten wir im Team. Dabei ist meine wichtigste und längste Gedankenpartnerin Michaela Englert. Maxi Süß und Philippa Halder haben vieles entwickelt. Malu Blume, Amelie Bender und Alexa von Senger ebenso. Und viele weitere tolle Menschen. Wir kooperieren mit Museen und Institutionen und entwickeln mit verschiedenen Partner*innen Projekte. Dazu bitte gerne auf unserer Webseite stöbern www.ephra.de.
Was verstehst Du unter Kunstvermittlung?
Obwohl unsere Arbeit bei Ephra oft als „Kunstvermittlung“ kategorisiert wird, hadere ich mit dem Begriff. Lieber würde ich „Dialog-Initiatorin“ genannt werden. Oder „Zwischenraum-Expeditorin“. Denn unsere Methodik gleicht einer intuitiven Forschungsreise in den inneren Raum. Wie Forscher*innen tasten wir uns vor, vertrauen der Intuition und verbinden verschiedene Erfahrungsebenen. Diese Exploration des Seelischen erfordert sowohl Behutsamkeit als auch strategischen Mut – manchmal muss man provozieren, um neue Perspektiven zu eröffnen.
Ich sehe mich dabei als einladende Türöffnerin: Meine Aufgabe ist es, Menschen willkommen zu heißen und ihnen den Raum zu geben, in dem sie ihren eigenen Gefühlen und Resonanzen vertrauen können. Besonders wertvoll sind dabei die Kinder als Verbündete: In ihrer Position zwischen unvoreingenommenem Staunen und dem Wunsch nach Zugehörigkeit sind sie natürliche Expert*innen im Forschen, Fragen und Erkennen.
In was für einem Verhältnis stehen Vermittlung und Kunst (für Dich) zueinander?
Mein Kunstverständnis steht in bewusstem Kontrast zum traditionellen, patriarchal geprägten Konzept des künstlerischen Genies. Diese herkömmliche Sichtweise, die männlichen Künstlern oft eine moralische Sonderstellung einräumt und ihr problematisches Verhalten toleriert, führt dazu, dass wir uns vor Kunstwerken häufig klein und unbedeutend fühlen. Ich lehne die Vorstellung ab, dass ein Kunstwerk etwas Isoliertes ist, das durch Vermittlung erst zugänglich gemacht werden muss. Stattdessen begreife ich das Kunstwerk selbst als vermittelndes Objekt – als einen Generator von Beziehungen und als Prisma, durch das Staunen und Erkenntnis möglich werden. In meinem Verständnis ist die künstlerische Praxis untrennbar mit dem aktiven Prozess des Sehens, Zuhörens und Gestaltens verbunden. Besonders wichtig ist mir dabei das Erschaffen und Bewahren von Räumen, in denen echte Verbindungen entstehen und emotionale Berührung möglich wird. Diese Räume des Austauschs und der Begegnung sind für mich nicht bloß Rahmen für Kunst – sie sind selbst künstlerische Praxis.
Warum (zeitgenössische) Kunst vermitteln?
Mein Zugang zur Kunst basiert auf intuitiver Erfahrung. Als Künstlerin erschaffe ich Räume für das gemeinsame Erleben und Erkunden innerer Zusammenhänge – sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene. Dabei ist mir die fundamentale Bedeutung kindlicher Perspektiven für gesellschaftliche Transformation besonders wichtig. Mit Sorge beobachte ich, wie diese wertvollen kindlichen Erfahrungsweisen in unserer Gesellschaft oft marginalisiert werden – ein Verlust, der uns alle betrifft. Der Kern meiner Arbeit liegt in der Schaffung bedeutungsvoller Begegnungsräume. Diese Räume ermöglichen es uns:
– gemeinsam neue Perspektiven zu entdecken
– einander aufmerksam und vorurteilsfrei zuzuhören
– Erfahrungen authentisch und forschend zu teilen
Kunsträume sind für mich zentrale Orte demokratischen Lernens und gesellschaftlichen Dialogs. Sie inklusiv zu gestalten – und zwar in vielerlei Hinsicht – verstehe ich als eine der wichtigsten Aufgaben unserer Zeit. Denn Kunsträume sind ein potentes Versuchsfeld für die Gestaltung von Zusammenleben.
In welchem Verhältnis siehst Du die Praxis des Kuratierens und der Vermittlung?
Sie gehören für mich strengstens zusammengedacht.
Warum ist Kunstvermittlung für ein Museum / eine Institution wichtig?
Wenn Museen als „Dritte Orte“ verstanden werden wollen, müssen Menschen, Kinder, Jugendliche und Erwachsene sich dort zugehörig fühlen. Und dafür braucht es Konzepte, die wild, frei, überraschend und innovativ sind. Und wir, eine Gesellschaft im Wandel, brauchen diese Orte, die Zukunftsräume öffnen, indem sie die Vergangenheit als Referenz nutzen, statt sie zu zelebrieren.
Wo befinden sich die (institutionellen) Räume, in denen wir über unsere Kunst-Erfahrungen diskutieren können?
Eigentlich überall, es benötigt eine Veränderung in der Haltung und mutige Menschen, die diese geöffneten Räume auch halten (und gestalten) können. (Und natürlich gibt es das Ephra Haus…)
Inwiefern kann Kunstvermittlung dem Publikum einen Handlungsraum eröffnen?
Mir ist wichtig einen Raum für Dialog zu schaffen. Ob dieser Dialog im Inneren der Betrachterin stattfindet, oder tatsächlich zu einer Handlung führt, ist dabei nicht unbedingt relevant. Der Kern-Auftrag ist, Einladungen an Menschen aus allen Teilen der Gesellschaft auszusprechen: jede*r einzelne zählt. Diese Einladungen können spielerisch oder provozierend, zart oder impulsiv sein.
Wann findest Du ist Kunstvermittlung gelungen? Wann findest Du ist Kunstvermittlung schwierig?
Wenn Impulse gesetzt werden, die frei sind, die Spaß machen, die aufwecken und erinnern. Wenn das dazwischen mutig und liebevoll bespielt wird, dann entstehen überzeigende Resonanzräume.
Was ich nicht mag, sind Zusätze, (ad-ons) und alles, was sich nach Beschäftigungsmaßnahmen anfühlt.
Das kann im Einzelfall funktionieren und Menschen abholen, aber da ich das Bespielen des Zwischenraums als eigene künstlerische Praxis verstehe, genügt mir das dann nicht und ist manchmal schlicht ärgerlich.
Gibt es eine spezielle Methode oder Strategie, mit der Du aktuell arbeitest?
Interviews und das Verwenden von Audio ist manchmal ein interessantes Tool, weil es vom herkömmlichen „wir-malen-das-mal-ab“ abweicht und Dialogräume öffnet. Wir haben im Ephra Team ansonsten ein ganzes Methodenset entwickelt, das wir kontinuierlich erweitern.
Woran arbeitest Du gerade?
Viele verschiedene Projekte brauchen gerade meine Aufmerksamkeit. Eines ist die Webseite ephra.art, die Informationen zu zeitgenössischen Künstler*innen und Werken für Lehrende bereitstellt. Der Zugang ist (hoffentlich) recht intuitiv und inspirierend. Die Künstler*innen auf der Seite wurden alle von Kindern im Rahmen von Ephra-Projekten besucht und/ oder interviewt. Auf die Dauer kann oder soll so ein Archiv von Arbeiten entstehen, auf das Schulen einfach zurückgreifen können.
Welche Bücher, Projekte etc. sind für Deine Arbeit wichtig – und warum?
Das sind vor allem mutige künstlerische Positionen – Jessica Stockholder oder Phylida Barlow haben mich geprägt. Ich liebe es, in die Kosmen bestimmter Künstler*innen einzutauchen – zum Beispiel von jenen, die bereits mit Ephra zusammengearbeitet haben. Ich liebe die Welt der Kunst und diese Liebe authentisch weiterzugeben, ist mir das Allerwichtigste.
Welche Frage würdest Du gerne einer/m Kunstvermittler*in stellen?
Wenn die Kunstvermittlung der Raum in der Mitte ist – welchem Tor wendest Du Dich in Deiner Praxis mehr zu, welcher Raum bekommt mehr Zeit und Aufmerksamkeit von Dir: der der Kunst oder der der Betrachter*innen? Und denkst Du viel über diese Dichotomie nach?
Wie stellst Du dir die Zukunft der Kunstvermittlung vor?
Ich wünsche mir jede Menge Räume in der Stadt und in Schulen, in Gemeinden und Parks und auf der Straße, in denen Kunst stattfindet. Weil Kunst vor allem eines ist: eine Einladung in Beziehung zu gehen. Mit sich selbst und der Welt, miteinander, mit dem Schmerzhaften und Schönen… und weil Kunst uns hilft, im Leben zu sein.
Rebecca Raue ist Künstlerin, Kuratorin und künstlerische Leiterin von Ephra, einer gemeinnützigen Organisation, die sie 2013 gegründet hat. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit steht die Vision einer „Kardiokratie“ – einer Gesellschaft, die auf der Weisheit des Herzens basiert. Diese Idee prägt ihre künstlerische Forschung und ihre gemeinnützige Arbeit, die auf Verbindung, Vertrauen und Mitgefühl basiert.
Nachdem sie weltweit ausgestellt hatte, stellte sie die Exklusivität des Kunstmarktes in Frage. Ihr Glaube an Kunst als demokratische Kraft führte sie zu einem
integrativen Ansatz, der die Perspektive von Kindern ernst nimmt und die Trennung zwischen Kindheit und Erwachsenenwelt in Frage stellt. Mit Ephra setzt sie diese Überzeugungen in die Praxis um: Sie schafft Räume, in denen Kinder durch Kunst gestärkt werden, Resilienz entwickeln und Demokratie aktiv erleben können. Sie hat mit verschiedenen Insititutionen kooperiert, darunter der Gropius Bau Berlin, das Jüdische Museum Berlin, das Humboldtforum und der Deutsche Bundestag. Zur Webseite.
Veröffentlicht am 16.05.2025
Zitiervorschlag: Rebecca Raue (2025): Jede*r einzelne zählt. Interview, The Art Educator’s Talk. What does s/he say? Abrufbar unter: https://thearteducatorstalk.net/?interview=rebecca-raue-jeder-einzelne-zaehlt
Interview: Gila Kolb
Bild im Header: Anna Rosa Krau





