Ein kollektives Interview

Intro 

Dieses kollektive Interview fand am 1. Dezember 2021 im Rahmen des Workshops „Who is the mediator?“ innerhalb einer Reihe von Online-Seminaren zum Thema Time for Cultural Mediation? statt. Die Workshopreihe wurde der Ural Industrial Biennale für zeitgenössische Kunst zusammen mit dem Garage Museum für zeitgenössische Kunst und mit Unterstützung der Schweizer Kulturstiftung pro helvetia organisiert.

Die Teilnehmenden des Workshops waren eingeladen, ihre Antworten auf ausgewählte Fragen des Interviews zu antworten, diese zu diskutieren und ggf. zu verändern. Die Antworten wurden auf einer online-Plattform gesammelt und nachträglich veröffentlicht. Einige der Teilnehmenden möchten zitiert werden, andere nicht. 

Das Resultat dieser Diskussionen und vor allem die Antworten berichten nicht, wie sonst in den Interviews mit dem „The Art Educator’s Talk“, aus einer Position. Sie zeigen nicht eine Haltung, sondern berichten von einem temporären Kollektiv des Workshops. Die Stimmen ergänzen sich, widersprechen sich, beziehen Position, fragen zurück. Mit anderen Worten: Sie sind im Gespräch, zu dessen Lektüre alle Lesenden dieses Blogs nun eingeladen sind, das hier als Momentaufnahme im Dezember 2021 die Positionen von Kunstvermittler*innen – nicht nur in Russland – dokumentiert.

Ein großer Dank geht an Alina Belishkina für die Idee des kollektiven Interviews, sowie für die Moderation des Workshops und die Übersetzung ins Englische. Ein großer Dank auch an Daria Malikova für die Einladung sowie an die Teilnehmenden für ihren Beitrag. 

Was verstehst Du unter Kunstvermittlung?

… sie eröffnet Chancen und schafft Strukturen, die es ermöglichen, Dinge zu lernen, die außerhalb des üblichen Erfahrungsbereichs liegen.
Vlad Nezabudkin

… sie ist ein kapitalistisches Werkzeug, das es den wohlhabenden herrschenden Klassen erlaubt, weiterhin Einfluss auf die Mechanismen der Meinungsbildung auszuüben.
 Teilnehmer*in

… sie ist ein Mittel, um die Menschen an das kulturelle und intellektuelle Erbe heranzuführen, das Begegnungen mit sich selbst ermöglicht und zu Selbsterkenntnis und Reflexion anregt.
 Teilnehmer*in

… sie erschafft Wissen durch die bildende Kunst.
 Teilnehmer*in

… sie ist Dialog und Exploration. Es ist ein Prozess von Gruppen- und individueller Erkundung/Forschung/Untersuchung. Und sie bietet einen Raum des Dialogs, in dem die Kommunikation auf verschiedenen Ebenen stattfinden kann.
 Xeniya 

… sie ist ein Instrument der Reflexion. So können die Teilnehmende und  Kunstvermittler*innen Erkenntnisse über sich selbst gewinnen und über die Menschen in der Gruppe und über die Welt, in der sie leben. Denn zeitgenössische Kunst ist ein Spiegel der Moderne und in diesem Spiegel kann man auch sein eigenes Spiegelbild sehen.
—  Teilnehmer*in

Ich würde die Kunstvermittlung in eine professionelle unterteilten und in eine, für die ich kein besseres Wort als „Masse“ gefunden habe. In der professionellen Ausbildung lernt man spezifische Kenntnisse und Fähigkeiten. Bei „Masse“ ging es früher mehr um die „Aufklärungsfunktion“ bzw. das „Aufklärungspotential“. Der Begriff „visual literacy“ beschreibt die Fähigkeit, aus Bildern Bedeutungen zu konstruieren, Botschaften in der Sprache der Kunst zu interpretieren und selbst zu gestalten. Aber neben der „visual literacy“ scheint die Kunstvermittlung noch viele weitere Aspekte zu umfassen, die die Bedingungen der Produktion und der Funktion von Kunst in der Gesellschaft in Frage stellen.
—  Teilnehmer*in

Warum Kunst vermitteln?

Zeitgenössische Kunst ist nicht verständlich. Besonders für Menschen, die an gegenständliche Kunst gewöhnt sind. Viele haben den Eindruck, dass der*die Künstler*in sich über sie lustig macht. Kunstvermittler*innen erklären solche Kunstwerke und zeigen, wie man mit ihnen umgehen kann.
—  Teilnehmer*in

Für mich bedeutet die Vermittlung jeglicher Form von Kunst, eine Diskussion und damit Ideen zu provozieren. Sie hilft, aus einer anderen Perspektive zu sehen und neue Bedeutungen zu erschließen, aber vor allem, sich selbst besser kennenzulernen (und die Menschen um einen herum natürlich auch). Warum lernen? Um die Zusammenhänge zu verstehen, die eigenen Sichtweisen zu bereichern, die Verbindungen und die Beziehungen zwischen den Kunstwerken zu erkennen.
—  Teilnehmer*in

Warum gibt es überhaupt zeitgenössische Kunst? Wären wir nicht besser dran ohne sie?
—  Teilnehmer*in

Inwieweit können Kunstpädagogik und Kunstvermittlung einen neuen Handlungsraum eröffnen?

Kunstpädagogik und Kunstvermittlung können mehrere Handlungsbereiche eröffnen. Zum Beispiel, indem man Besucher in eine Ausstellung begleitet oder mit ihnen über die gezeigten Werke ins Gespräch kommt. Menschen interessieren sich dafür, finden aber keine passende Begleitung. Manchmal ist auch eine Möglichkeit für Menschen, um sich selbst zu erkunden oder ihre Welt zu erweitern. Die Vermittler*innen können dabei psychologische und soziale Unterstützung bieten.
—  Teilnehmer*in

Die Ästhetik ist wirklich eine Sache, die der Ethik nachfolgt. Ich denke, dass sich die zeitgenössische Kunst in einer grundlegenden Interaktion mit der Ethik entwickeln sollte und dass die Kunstvermittlung daher einen gesellschaftlichen Einfluss haben sollte, während sie sich mit gesellschaftlichen und ethischen Fragen auseinandersetzt.
— Tatyana

Gibt es eine spezielle Methode oder Strategie mit der Du aktuell arbeitest?

Ich arbeite derzeit mit den Methoden der praktischen Philosophie – sokratischer Dialog und hermeneutische Analyse. Ich mag auch interaktive Methoden, bei denen das Fragen wichtiger ist als das Antworten. Darüber hinaus verwende ich verschiedene künstlerische Praktiken wie Schreiben, storytelling und dokumentarisches Theater.
Oxana Vinokurova

Ich interessiere mich für die Möglichkeiten und Grenzen digitaler Werkzeuge, die online verfügbar sind.
—  Teilnehmer*in

Welche Frage würdest Du gerne einer*m Kunstvermittler*in stellen?

Ist ein*e Kunstvermittler*in mit seinen/ihren Arbeitsbedingungen, seinen*ihren Rechten und seinem*ihrem Gehalt zufrieden? Fühlt sie*er sich im Vergleich zu ihren*seinen Kurator*innenenkolleg*innen nicht etwas benachteiligt?
 Teilnehmer*in

Wie bewegt sich der*die Vermittler*in in dem ständigen Strom von Bedeutungen und Interpretationen, der uns alle derzeit umgibt? Wie entwickelt sie*er ihre*seine individuelle Position und findet sie die (unterstützenden) Strukturen, um darauf reagieren zu können?
 Teilnehmer*in

Wie stellst Du dir die Zukunft der Kunstvermittlung vor?

Die Kunstvermittlung muss sich, wie jede andere Form der Bildung auch, verändern. Zumindest sollte sie zu einem gesellschaftlichen Aufstieg für diejenigen beitragen, die sie erhalten, und nicht nur für diejenigen, die schon von Anfang an privilegiert waren.
—  Teilnehmer*in

Ich denke, dass es zumindest einige Herausforderungen für die Kunstvermittlung gibt. Einerseits werden von den Künstler*innen weniger akademische oder wissenschaftliche Fähigkeiten erwartet als vielmehr Kreativität und Ideenreichtum, und daher werden solche Dinge kaum noch gelehrt. Andererseits benötigen junge Künstler*innen, die mit digitalen und neuen Medien arbeiten, fundierte Kenntnisse z.B. in KI-Technologien, Science Art, NFT usw.. Und es gibt nicht viele Orte, die dies derzeit vermitteln können.
Darüber hinaus scheinen viele Menschen Kunst sowohl angewandt als auch theoretisch studieren zu wollen (z. B. Kunst machen und Kunstgeschichte studieren), nur um des Vergnügens willen, und sehen sie nicht als ihren zukünftigen Beruf an. Da sich die Motivation dieser Menschen von der der Kunststudierenden unterscheidet, muss man meiner Meinung nach mit unterschiedlichen Lehrmethoden auf ihre Bedürfnisse eingehen.
—  Teilnehmer*in

Verschmelzung der Grenzen zwischen Kunstvermittlung und verschiedenen Praktiken und Bereichen: Sozialarbeit, Beratung, künstlerische Tätigkeit, Psychologie, Unterhaltung.
—  Teilnehmer*in

Dezember 2021
Antworten von: Tatyana, Xeniya, Rada Brakhman, Vlad Nezabudkin, Oxana Vinokurova, Teilnehmer des Workshops am 2. Dezember 2021.
Interview: Gila Kolb, Alina Belishkina, Daria Malikova



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